LeseProbe: Wi(e)der die Juden. Judentum und Antisemitismus in der Publizistik aus sieben Jahrhunderten (F.J. Wiegelmann)

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::: Katalog-Buch zur gleichnamigen Wanderausstellung :::

Die ungeheuerlichen Verbrechen der Nationalsozialisten verstellen oftmals den Blick auf die Tatsache, dass Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit tief in unsere Geschichte zurückreichen. Die Publizistik hat in ihrer Berichterstattung über Jahrhunderte hinweg oftmals ein demütigendes, negatives Judenbild gezeichnet und so mit dazu beigetragen, den Boden für die Verbrechen des Dritten Reiches zu bereiten. Diese Entwicklung, von den frühen Flugblättern des Mittelalters bis hin zur Judenhetze im »Stürmer«, wird anhand beispielhafter Veröffentlichungen erläutert und gezeigt. Dem Versuch der Jüdischen Presse, den Verleumdungen und der Judenfeindlichkeit zu begegnen, ist ein eigenes Kapitel gewidmet. […]

Über Chroniken, Flugblätter und Newe Zeyttungen

Das Wort »Zeitung« fand bereits im Mittelalter Verwendung, damals allerdings nicht als Gattungsbegriff einer Publikation, sondern mit der Bedeutung »Nachricht«. Lautete also die Überschrift einer Mitteilung »Zeitung aus […]«, so war damit »Nachricht, Information aus […]« gemeint. Diese frühen Zeitungen oder »Zeyttungen« wurden zumeist als Einblattdrucke oder Flugblätter, unregelmäßig und in kleiner Auflage herausgegeben und durch fliegende Händler verkauft. Als wichtige, kostbare Informationsquellen wanderten sie dann oftmals von Hand zu Hand. Sie berichteten in knapper Form, zumeist mit einem fantasievollen Kupferstich illustriert, über die interessantesten Tagesereignisse, vorrangig über Kriege, Katastrophen, vermeintliche Sensationen, Himmelserscheinungen oder religiöse Streifragen. Viele dieser Meldungen und Berichte wurden gesammelt und flossen später in chronikalische Werke, wie die Schedelsche Weltchronik[1], Sebastian Münsters[2] Cosmographica, die Messchroniken oder das Diarium Europaeum[3] ein. Bereits in diesen frühen Publikationen des 15. und 16. Jahrhunderts finden sich Meldungen mit Zerrbildern über das Leben und die angeblichen Verbrechen der Juden, die in gleicher oder ähnlicher Weise über die Jahrhunderte hinweg immer wieder kolportiert und nachgedruckt wurden. So berichtete 1475 Johannes Matthias Tuberinus in einem römischen Flugblatt »Passio beati Simonis pueri Tridentini a Judeis nuper occisi, quam ad rectores et cives Brixienses scripsit« über die Leidensgeschichte des jungen Simeon in Trient, der in der Karfreitagnacht 1475 zu Tode gemartert worden sei. Als Täter wurden Juden verdächtigt.[4] Achtzehn Jahre später fand diese Geschichte Eingang in die Schedelsche Weltchronik von 1493. Zweifel an der Täterschaft der Juden wurden jetzt nicht mehr geäußert. Damit dem Betrachter die angebliche Verworfenheit der Juden auch so recht bewusst wurde, illustrierte die Weltchronik das vermeintliche Geschehen mit einer blutrünstigen Abbildung.

Drei Jahre später erschien bei Johann Schönsperger in Augsburg, der so genannte Kleine Schedel. Wieder wird der Tod des »Simeon, sellig kindlein zu Trient« thematisiert und mit einer neuen Abbildung versehen.[5] Fast hundert Jahre später (1580) wird der Fall erneut aufgegriffen, diesmal in der Cosmographica: »Im jar anno Christi 1475 verlor ein gerber zu Triendt ein Kind zweyer jar alt in der Charwochen. [] die Juden zwackten es mit Zangen und stachen es, spannten es an ein Creuz, gleich wie Christus am Creuz aufgespannet was worden, biß es starb.«[6] Jetzt wurde Simeon also nicht nur gemartert, sondern auch noch gekreuzigt. Natürlich ist die »neue« Grausamkeit ebenfalls im Bild dargestellt. Wir verfügen somit – für ein Ereignis – über drei verschiedene Texte und Illustrationen, die alle nur der Fantasie der jeweiligen Künstler entsprungen sind. Nachrichten und Bilder wie diese haben die Vorstellung der Menschen von den Juden entscheidend geprägt. An »Simeon aus Trient« zeigt sich darüber hinaus exemplarisch, wie die frühen Flugblätter und Einblattdrucke Eingang in die chronikalischen Werke gefunden haben.[7]

Angebliche Ritualmorde an Christen oder deren Kreuzigung waren immer wiederkehrende Vorwürfe gegen die Juden. In der Schedelschen Weltchronik findet sich schon 1493 eine weitere Szene über die angebliche Kreuzigung eines Kindes in England: »Wilhelmus ein Kind in engelland wardt dieser zeit von den iuden am karfreytag in der statt norwico gekreuzigt. Von dem liset man danach ein wunderlichs gesichte.«[8]

Es gab aber auch schon frühe Meldungen über die Verfolgung und Tötung von Juden. Die Auflage der Cosmographica aus dem Jahr 1590[9] berichtete über den Tod von 40 Juden in Gallia (Frankreich): »Es wurden [].zu Victry 40 Juden gefangen und alß sie wol gedenke mochten, daß sie dem Todt nicht entrinne möchten, erwehlten sie zwe auß ihnen, die die anderen tödteten, damit sie vor der Christen Henden nicht gepeinigt wurden. Unnd da der eltest unnd der jüngst diese Sach vollstreckt hetten unnd auff sie zwen alle Todt waren, bat der eltest den jüngern, daß er ihn tödtet, das thet er. Darnach nam er alles Gold das er bey ihnen fand unnd macht [] ein Seyl unnd ließ sich damit hinab. Aber er war dem Seyl zu schwer: dann es zerbrach eh er hinab kam unnd auß dem hohen fall, den er in den Graben thet, zerbrach ihm ein Schenkel, da ward er gefangen unnd mit dem Todt gestrafft.«

Wie der vermeintliche Ritualmord, so sollte auch die Beziehung der Juden zu Geld und Gold immer wieder in den Meldungen und Nachrichten auftauchen. Auch Verschwörungstheorien, meist mit der erkennbaren Absicht, den Juden Geld und Privilegien abzupressen, wurden immer wieder geäußert. Die Warhafftige Newe Zeyttung von einem Trewlosen Juden Doctor genandt Leüpold schilderte 1573 einen derartigen Fall.[10] Ein Berliner Münzpräger, der Jude Lippold, habe sich mittels Alchemie die Gunst des Kurfürsten erschlichen. Als der Fürst erkrankte, habe Lippold »mit dem Geschmeiß, den Juden von Berlin«, beratschlagt, wie er den Kurfürsten töten könnte. Er habe ihm dann einen Gifttrunk verabreicht, an dem der Herrscher einige Tage später verstorben sei. Sofort seien die Juden in Verdacht geraten; Lippold sei gefoltert worden und habe nach schrecklichen Torturen die Tat gestanden. Daraufhin habe der junge Markgraf alle Juden des Landes verwiesen, nicht ohne vorher deren ganzen Besitz zu konfiszieren.

Auch aus Wien wurden die Juden vertrieben, wie 1670 die Jüdische neue Zeitung vom Marsch aus Wien und anderen Orten belegt.[11] Das war überhaupt eine beliebte Geldquelle der macht- und geldgierigen Fürsten: Wurden die Juden erst, natürlich unter Konfiszierung ihres Vermögens, vertrieben, durften Sie dann später meist gegen Zahlung eines »Schutzgeldes« zurückkehren. Den Versuch der 1670 vertriebenen Wiener Juden, eine Rückkehrerlaubnis zu »erkaufen«, beschreibt die Märzausgabe des Diarium Europaeum von 1675: »Zu Wien befanden sich Jüdische Abgeordnete mit Interessionen, welche sich erboten, dafern Se. Kayserl. Mayt. einer gewissen Anzahl wieder dahin zu kommen allergnädigst erlauben wollte, zehen Regimenter zu Pferde und Fuß zu werben und eine Zeitlang zu unterhalten. Es verlautete aber, daß sie trostloß abgefertigt wären worden.«

Den Berliner Juden war Anfang des 17. Jahrhunderts die Rückkehr gestattet worden, wobei nur die Juden, die für Stadt und Land finanziell oder wirtschaftlich von Interesse waren, einen so genannten Schutz- oder Geleitbrief erhielten. Schon 1684 finden sich in der Ordentlichen Wochentlichen Post-Zeitung aus München Meldungen über eine erneute Vertreibung der Juden: »Auß Berlin vom 8. Februarij (1684). Jetzto werden alle Juden zu Cöln an der Spree vors Gericht gefordert; die so nicht spezial Privilegia haben, sollen alle fort, aber vorhero eine grosse Straffe erlegen, weilen sie dem ersten Befehl nicht gehorsamet unnd sich weggemacht haben.«[12] Zwanzig Jahre später kann man im Hildesheimer Relations Courier vom 21. November 1705 erneut Meldungen über die Ausweisung Berliner Juden lesen: Berlin, vom 17. Novembr. Verwichenen Sonnabend ist allhier durch öffentlichen Tromelschlag publiciret worden, daß alle die Juden so keinen Geleitbrief haben, innerhalb 14 Tagen sich von hier wegbegeben sollen.[13]

Auch der bis in die heutige Zeit immer wieder geäußerte Vorwurf gegen »Jüdische Wucherer« wurzelt tief in den Überlieferungen des Mittelalters. Im Katalog des Antiquariats Halle findet sich das Judenmandat von 1540 des Walter von Cronberg, dem Administrator des Hochmeistertums in Preußen, das sich »gegen lesterlich wucher unnd betrüglich gewerb und handelung der Juden« wendet und die Anweisung enthält, »das jr weder heymlich noch offentlich hinfüro von Juden nichts entlehendt, Mit jnen handtierendt, noch sonst in eynigen wucherlichen handel einlassent.« Den Juden wird auferlegt, »sich wucherlichs anlehens und hantierung mit bemelten unsern underthonen zu enthalten«.[14] Natürlich wurde bei derartigen Meldungen nicht erwähnt, dass den Juden die Zünfte und das Handwerk verschlossen blieben und sie deshalb überwiegend nur Hausiererei, Handel und eben Geldgeschäfte betreiben konnten. In der Montäglichen Wochenzeitung vom 6. 16. November 1682 findet sich folgende »Wucher-Meldung« aus Rom: »Weiln es die Juden allhier mit ihrem schandlichen Gelt-Wucher allzu viel machen, da sie auf Pfand um 12. von 100. Gelt leihen, hat der Papst wider ein scharpfes Verbott außgehen lassen und will dagegen den armen Leuthen mit Gelt zubegegnen.«[15]

Ein auffallendes und immer wiederkehrendes Merkmal der Berichterstattung war der Zusatz »Jude« oder »jüdisch«. Betraf eine Meldung den jüdischen Lebenskreis, dann hieß es: der Jude, die Jüdin hat dies oder jenes getan. Bei Katholiken, Lutheranern oder Protestanten finden sich derartige »Ergänzungen« nicht. Wurde also über vermeintliche Vergehen und Verbrechen oder »Wunderzeichen« berichtet, so fiel allein durch die spezielle Bezeichnung der Juden ein negatives Bild auf diese Religionsgemeinschaft. Ein typisches Beispiel für diese »Stigmatisierung« zeigt die Wunderzeitung von 1579, in der über eine schwangere »Jüdin!« berichtet wurde: »Eine gewisse Wunderzeitung von einer schwangeren Jüdin zu Binzwangen, vier Meil von Augsburg, welche kürzlich den 12. Dezembris des nächstverschienenen 74. Jahrs anstatt zweier Kinder zwei leibhaftige Schweinlin oder Färlin gebracht hat.«[16]


[1] Hartmann Schedel (1440-1514), Arzt und Stadtphysicus in Nürnberg. Zur Entstehungsgeschichte der Weltchronik von 1493 siehe Hartmann Schedel, Weltchronik, Kolorierte Gesamtausgabe von 1493, Einleitung und Kommentar von Stephan Füssel, Augsburg 2004.

[2] Sebastian Münster (1488-1552), Professor für Hebraistik und Rektor der Universität Basel. Münster war Herausgeber der in Basel publizierten Cosmographica, Das ist die Beschreibung der ganzen Welt. Die erste Auflage erschien 1544, sie erlebte mehrere Auflagen, die letzte 1628.

[3] Das Diarium erschien von 1659 bis 1683 und schöpfte seine Informationen aus Messrelationen, Flugblättern und -schriften sowie Zeitungen. Vgl. Stöber, Rudolf: Deutsche Pressegeschichte – Einführung, Systematik, Glossar, Konstanz 2000, S. 43 u. 275 [siehe Tafelteil I; Abb. I/ 4].

[4] Halle, J., Katalog 70: Newe Zeitungen – Relationen, Flugschriften, Flugblätter, Einblattdrucke von 1470 bis 1820, München 1929, S. 1 Nr. 2.

[5] Siehe Tafelteil I; Abb. I/ 1.

[6] Cosmographica 1580, Blatt CCCXLII [siehe Tafelteil I; Abb. I/ 2].

[7] In diesem Zusammenhang dürfen die vielen Flugschriften der Reformationszeit nicht außer Acht bleiben. Insbesondere Martin Luthers Schrift aus dem Jahr 1543 „Von den Juden und ihren Lügen trug viel zur Vergiftung des christlich-jüdischen Verhältnisses bei. Er verbreitete darin seinen treuen Rat: Verbrennt die Synagogen, brecht ihre (sc. der Juden, Anm. d. Verf.) Häuser auf und zerstört sie, nehmt alle Gebetsbücher und den Talmud fort, [… usw.]. Bis zum letzten Rat: „Darum immer weg mit ihnen!“ Viele dieser Forderungen dienten Jahrhunderte später den Nationalsozialisten als Rechtfertigung für ihre Mordtaten.

[8] Weltchronik 1493, Blatt CCI; vgl. oben, Anm. 1.

[9] Siehe Tafelteil I; Abb. I/ 3.

[10] Vgl. Hortzitz, Nicoline: Von den unmenschlichen Taten des Totengräbers Heinrich Krahle zu Frankenstein … und andere warhaftige „Neue Zeitungen“ aus der Frühzeit der Sensationspresse, Frankfurt 1997.

[11] Vgl. Gilhofer & Ranschburg: Katalog 183 – Frühe Zeitungen, Wien o.J. (um 1922), S. 79 [siehe Tafelteil I; Abb. I/ 5].

[12] Buchner, Eberhard: Das Neueste von gestern. Kulturgeschichtlich interessante Dokumente aus alten deutschen Zeitungen, Erster Band, S. 173 Nr. 335.

[13] Hildesheimer Relations Courier vom 21. November 1705.

[14] Vgl. Halle, J., a.a.O., S. 89 Nr. 264. Das Flugblatt ist datiert: Mergentheim 22. Sept. 1540.

[15] Die Montägliche Wochenzeitung erschien in Luzern. Bei der Datumsangabe wurde der Tag sowohl nach dem julianischen (6. November) als auch nach dem gregorianischen (16. November) Kalender angegeben [siehe Tafelteil I; Abb. I/ 6].

[16] Schottenlohr, K./ Binkowski, J.: Flugblatt und Zeitung, Band I, München 1985, S. 223.

Weiterlesen – Inhalt des Buches:
Einleitung ? Über Chroniken, Flugblätter und Newe Zeyttungen ? Das Bild der Juden in der Presse des 18. Jahrhunderts ? Emanzipation und Antisemitismus. Das Judentum in der Presse des 19. Jahrhunderts ? Der Untergang des europäischen Judentums ? Das Judenbild nach dem Holokaust ? Gegenwehr und Selbstbehauptung: Die Jüdische Presse in Deutschland ? Anhang ? Literaturhinweise

Internet-Präsenz zum WdJ-Projekt (Buch und Wanderausstellung)

Franz Josef Wiegelmann: Wi(e)der die Juden. Judentum und Antisemitismus in der Publizistik aus sieben Jahrhunderten; 268 Seiten, über 150 s/w-Abb., Bonn 2005, ISBN 978-3-9809762-8-2, Euro 19,80

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Datum: Donnerstag, 9. Juli 2009 21:33
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