Fremde Feder #3

Alle Macht den Moderatoren?

In welcher Epoche wir leben? Aber das wissen wir doch längst. Mit einer einzigen Bezeichnung ist sie zwar nicht zu fassen, doch wir Menschen, jedenfalls viele von uns, haben ja auch mehrere Vornamen. Die oft wenig oder gar nichts miteinander zu tun haben. Wie sollte es da bei einer Epoche anders sein? Ihre wichtigsten Namen sind: das technische Zeitalter, das Zeitalter der Massen und die Postmoderne.

Das technische Zeitalter begann, ohne dass es den Zeitgenossen schon bewusst war, mit dem Siegeszug der Eisenbahnen und entwickelte sich in rasantem Fortschreiten bis zur heutigen, der atomaren Stufe. Dabei wurde der Mensch vom Beherrscher der Technik immer mehr zu ihrem Beherrschten, ihrem Untertan. Wie schon Mephisto in der Schülerszene vorausgesagt hatte, wurde aus der Wohltat Plage.

Von einem Zeitalter der Massen wird gesprochen, seit es Gustave Le Bon 1895 in seinem Standardwerk »Die Psychologie der Massen« [franz.: »La psychologie des foules«] so getauft hat. Seine Thesen sind in vielen Fällen noch heute nicht überholt, und ähnlich verhält es sich mit dem »Aufstand der Massen« [»La rebellion de las massas«] von Ortega y Gasset.

Die Postmoderne wiederum setzte ein, als einerseits dem Avantgardismus als Vorhut der Moderne mit seinem Hang zum Extremen und zur Exklusivität eine Breitenwirkung versagt blieb, andererseits die Klassiker der Moderne in den Status zeitloser Geltung erhoben wurden, stilistisch durchaus erkennbaren Formen verpflichtet. Unter dem Deckmantel »Postmoderne« aber hat sich ein stilistisches Chaos breitgemacht, in dem, künstlerisch jedenfalls, jeder machen kann, was er will.

Die beiden Namen »Technisches Zeitalter« und »Postmoderne« werden vielen Phänomenen unserer Zeit allerdings nicht gerecht, erfassen nicht einmal in knappen Worten das Innenleben unserer Epoche. Ich selbst hatte als junger Mensch zwei Schlüsselerlebnisse, die mich dazu brachten, unserem Zeitalter weitere Namen zu geben.

An so genannte »Bunte Abende« war ich als Junge durch Rundfunksendungen gewöhnt. Mit einer Mischung von Musiknummern, kurzen Sketschen und gewollt witzigen Ansagen eines Conférenciers sollten sie im Kriege die Stimmung der breiten Masse, der »Volksgenossen«, aufhellen. Einen solchen »Bunten Abend« hatte ich schon mit fünfzehn Jahren auf einer Bühne erlebt, auf dem Flakschießplatz Deep in Hinterpommern. Sang einzelne Couplets immer wieder nach. Nun wurde ich im November 1943 als Soldat mit einem ganzen Rekrutenjahrgang von Guben nach Berlin verfrachtet, um dort nach den schweren Luftangriffen in der Frankfurter Allee Aufräumarbeiten zu leisten. Nach drei Wochen hatten wir unseren Auftrag erfüllt und erhielten als Belohnung außer Schnaps und Zigaretten Freikarten für eine Vorstellung der »Scala«. Die war als Variété-Theater Teil des immer noch unvorstellbar breiten Kulturprogramms der Reichshauptstadt, in der zwischen Stalingrad und Ausrufung des totalen Krieges so wie im tiefsten Frieden gespielt wurde. In der »Scala« lief ein aus Akrobatik, Tanz und Gesang gemischtes Programm, dessen einzelne Nummern völlig unabhängig voneinander waren, durch ein Nummerngirl angekündigt und von einem Conférencier angesagt. Vor allem die Jongleure, Parterreakrobaten und Zauberkünstler waren hochgetrimmte Spezialisten, die erst nach jahrelangem Training die Höchstleistungen erreicht hatten, mit denen sie nun das Publikum begeisterten und – ihr Geld verdienten. Mit Scheuklappen konzentrierten sie sich auf ihre Disziplin, ohne sich um etwas anderes zu kümmern. Nicht um ihre Kollegen und schon gar nicht um das Kriegsgeschehen. Sie waren für mich, als ich später meinen Berliner Scala-Besuch überdachte, Repräsentanten des Spezialistentums, des Fachidiotentums, das unsere ganze Gesellschaft prägte und noch heute prägt. Soviele verschiedene Fachidioten wie im Programm eines Variétés sieht man sonst nicht in so kurzer Zeit. Insofern spiegelte sich in einem Variétéprogramm stellvertretend der Zustand unserer Gegenwart. Für mich wurde sie dadurch zum »Zeitalter des Variétés«.

Dabei hielt ich den Ansager, den Conférencier, den Verbindungsmann anfangs noch für eine Nebenrolle, mochten sich auch bis 1945 in Rundfunksendungen wie »Guten Morgen, lieber Hörer« einige Komiker wie der Berliner Bruno Fritz oder der Rheinländer Jupp Hussels durch ihren Dialekt und ihre Art von Witzen beliebt machen. Erst allmählich wurde durch Fernsehserien das Rollenverhältnis in bunt gemischten Programmen umgekehrt. Nun wurde der Moderator, der das Ganze zusammenhielt, zur Hauptperson, gefördert durch Serien von Sendungen, deren einziges konstantes Element er bildet. Seinetwegen stellt man diese Sendungen an, ganz gleich, was ein Frankenfeld, Kuhlenkampf oder ein anderer Oberkellner einem diesmal als Menu servieren wird. In »Wetten, dass …?« als Prototyp dieser Sendungen haben Spezialistentum und Aufstieg des Moderators am besten gezeigt, wie sich inzwischen die Struktur von Variétéprogrammen gewandelt hat. Sie setzen sich in dieser Serie immer noch aus Darbietungen von hoch spezialisierten Könnern zusammen, die zwar Dilettanten sind, in ihrem aber meist sehr kleinen Bereich von keinen Profis übertroffen werden. Und doch stehen sie nicht auf derselben Stufe wie ihr Moderator, wie Thomas Gottschalk, ihr Gönner. Als Show-Master und Publikumsmagnet führt er die einzelnen Teilnehmer vor, mit Starallüren und in immer neuen Kostüm-Unikaten. Führte er sie vor, muss man jetzt sagen, nachdem sich Gottschalk von dieser Sendungskette verabschiedet hat.

Er hat sein Auftreten auf diese Sendungen beschränkt, das muss man ihm lassen. Andere Moderatoren dagegen, haben die von ihnen geleiteten Sendungen erst einmal eine hohe Zuschauerquote erreicht, erhalten oder erstreiten sich eine eigene Sendung, die nun nur noch nach ihnen benannt, mit ihrem Namen angekündigt wird. Gutes Beispiel dafür: der Erfinder und Beliebtmacher von »Hart, aber fair« Plasberg, der nun seine eigene Sendung planen und moderieren darf. Gottschalk ist bei aller überzogenen Selbstdarstellung immer auch noch das geblieben, was ein Moderator nach der Definition im »Großen Duden« eigentlich sein soll: ein »lenkender Vermittler«. Der zum Titelträger und Regisseur eigener Sendungen aufgestiegene Moderator aber vermittelt weniger die Beiträge anderer als seine besondere Art, zu moderieren und damit sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen.

Das Stichwort »Vermittler« führt mich zu meinem zweiten Schlüsselerlebnis. Man stelle sich im Sommer 1945 ein Sperrgebiet auf deutschem Boden vor, in dem die gefangenen deutschen Soldaten ihre Uniform und ihre Vorgesetzten die Befehlsgewalt behalten haben. Einen »Kral«. Die Briten bewachen lediglich die Grenzen dieses Terrains. Mitten darin residiert, wenn man das noch so nennen darf, im Herrenhaus des Grafen von Platen der General von Stockhausen. Seine abgewrackten Leute, Strandgut des Krieges, sind als Kompanien auf die umliegenden Orte verteilt, mit ihrem Abteilungsstab durch primitive Feldfernsprecher verkabelt. Wollen sie mit ihrem Abteilungskommandeur oder einer anderen Kompanie sprechen, müssen sie per Handkurbel eine Vermittlung anrufen. Dort werden sie dann mit dem gewünschten Gesprächspartner verbunden.

In dieser Vermittlung saß ich einige Monate lang an einem Zehnklappenschrank. Meldete mich, sobald eine der Klappen gefallen war, mit »Vermittlung«, wenn der Anruf vom Kommandeur oder einer der Kompanien kam; mit »Stab Erdmann«, wenn – selten genug – der General mit dem Kommandeur – es war Major und Ritterkreuzträger Erdmann – sprechen wollte. Erdmann seinerseits beauftragte mich mehrmals, ihm eine Verbindung mit einem zivilen Telefonanschluss zu verschaffen. Das ging nur über den Stab im Herrenhaus, der mich seinerseits mit einer englischen Vermittlung verband, über die allein eine Kommunikation mit zivilen Telefonbesitzern möglich war. Einige Male hatte das geklappt und wäre hier keine Erwähnung wert gewesen, hätte es nicht eines Tages eine Panne gegeben.

Erdmann wollte auf besagtem Umweg mit einer Dame in Rendsburg sprechen. Die meldete sich auch, aber als ich die beiden zusammenstöpselte, hörten sie sich gegenseitig nicht. Ich dagegen hörte ihn und hörte sie. Und wurde von einem passiven zu einem aktiven Vermittler. Gab das, was ein Gesprächspartner dem anderen sagen wollte, in möglichst genauer Wiederholung weiter. Beide sprachen deutsch. »Sagen Sie der gnädigen Frau ….«, »Sagen Sie Herrn Major Erdmann …«, so ging das nun hin und her. Ich brauchte nichts zu übersetzen, war aber im Prinzip in einer ähnlichen Situation wie ein Dolmetscher. Von dem nimmt man an, dass er sich als Vermittler genau an das hält, was die Dialogpartner gesagt haben. Er könnte es aber auch verändern, ohne dass der oder die andere es merken. Beispielsweise aus diplomatischen Gründen einzelne Äußerungen mildern oder verschärfen. Vermutlich ist dies auf internationaler Ebene bisweilen auch schon so gehandhabt worden. Jedenfalls ist der Dolmetscher ein Vermittler, der mehr weiß als die beiden Partner, zwischen denen er zu vermitteln hat.

In einer Sonderform des Moderators gibt ein Vermittler anderer Art vor, alles das zu wissen, was er aus seinen Kandidaten herausfragt: der Quizmaster. Dabei hat ihm hinter den Kulissen ein ganzes Team zugearbeitet, um ihn mit Fragen und Antworten zu versorgen. Er selbst würde als Kandidat vermutlich schmählich untergehen. Showmaster, Moderator, Quizmaster – sie sind, um es mit Hans Sachs zu sagen, Hosen eines Tuchs. Aus dienstbaren Vermittlern ohne individuelle Prägung sind sie durch eine Fülle von Sendungen zu Hauptpersonen geworden. Sie spielen eine der beiden Hauptrollen, um die sich Darsteller am meisten reißen. Die andere ist die der Kriminalkommissare, seit einigen Jahren auch der Kriminalkommissarinnen. In der Nachfolge von Sherlock Holmes und Hercule Poirot sind sie wichtiger als die Verbrechen, die sie aufklären. Wichtiger auch als die Verbrecher, denen sie das Handwerk legen. Sie moderieren gewissermaßen Kriminalität. Das tun auch die Leiter von Sendungen, in denen die Täter unaufgeklärter Verbrechen gesucht werden.

Verwandt mit Moderatoren sind ebenfalls die Entertainer, oft auch als Alleinunterhalter unterwegs. Und die Animateure. Viele Menschen wissen nichts mit sich anzufangen, wenn sie allein sind. Denen sollen diese Antreiber zu eigenem Tun wenigstens in Altenheimen und Kurorten, auf Kreuzfahrtschiffen und Betriebsfesten die Langeweile vertreiben. Nichts anderes wollen die Showmaster und Quizmaster ja auch.

Unser technisches Zeitalter der Postmoderne und des Variétés ist demnach – alles in allem – auch ein Zeitalter der Moderatoren. Doch hinge dieser sein vierter Name in der Luft, wäre nicht der Typ des Moderators längst vorgeprägt. Durch die Geistlichen der christlichen Kirchen. Dass die Rollen des Priesters und des Moderators nahezu identisch sind, könnte man zunächst für eine unbewiesene Behauptung, wenn nicht gar für eine Entwürdigung des geistlichen Standes halten. Nun aber hat kürzlich eine zurückgetretene, entkanzelte Bischöfin demonstriert, wie leicht sie von einer in die andere Rolle schlüpfen konnte. Als sie eingeladen wurde, vertretungsweise die Moderation in einer Talkshow zu übernehmen, sagte sie sofort zu und wurde dieser neuen, anderen Rolle problemlos gerecht.

Als studierte Pastorin hatte sie bei der Moderation der Gottesdienste den Gläubigen ihr größeres theologisches Wissen zu vermitteln. Doch sind die evangelischen Gottesdienste mehr und mehr in zwei Teile gespalten: die Liturgie und die Predigt. In der Liturgie mit Bibelzitaten, Gebeten und Chorälen beschränkt sich der Geistliche auf seine Vermittlerfunktion. Diese Liturgie aber wird (wie Rezitative in italienischen Opern) weitgehend als Durststrecke empfunden. Daher hängt die Wirkung eines protestantischen Gottesdienstes von der Qualität der Predigt, und das heißt: von den rhetorischen Fähigkeiten und der individuellen Ausstrahlung des Kanzelredners ab. Er kann beides in den Dienst der christlichen Botschaft und der Bibelinterpretation stellen, aber auch nicht verhindern, dass die Gottesdienste vor allem seinetwegen besucht werden. Der Personenkult um besagte Bischöfin nach ihrem Rücktritt berechtigt zur Annahme, dass sich in ihrer Amtszeit ihre Bischofskirche sonntags hauptsächlich um ihrer Predigt willen füllte. Dabei wäre dann die Moderatorin wie eine »weltliche« Vermittlerin zur Hauptperson geworden. Wahrscheinlich kein Einzelfall. Um die Rollenverwandtschaft auf den Punkt zu bringen: man geht (in solchen Fällen) in einen Gottesdienst und man stellt eine Sendung an nur des Moderators wegen.

Hängt es in protestantischen Gottesdiensten von der Individualität des Geistlichen ab, ob er als Moderator zur Hauptperson wird, so ist es der katholische Priester immer schon kraft seines Amtes. Als Showmaster der Gottesdienste, in denen es auch auf äußere, oft veräußerlichte Wirkung ankommt, ist er durch seine Priesterweihe, so jedenfalls behauptet die Kirche, dem einfachen Gläubigen überlegen. Wie ein Quizmaster verfügt dieser Moderator, dieser »leitende Vermittler« über ein größeres Wissen, das aber nicht aus ihm selber kommt, sondern von einer höheren Instanz, mit der er auf Grund seines Theologie-Studiums, vor allem aber wegen seiner Weihe in Verbindung steht. Er sitzt an der Schaltstelle, über ihn und niemals an ihm vorbei kann sich der »uneingeweihte« Mensch kniend, betend und das Kreuz schlagend dieser obersten Instanz nähern.

Bei dem einfachen Geistlichen, dem Dorfpriester etwa, besteht die Gefahr des Personenkultes kaum, da die Predigt im normalen Gottesdienst keine große und in der traditionellen Messe überhaupt keine Rolle spielt. Je höher aber ein Priester in der Hierarchie seiner Kirche aufsteigt, desto mehr Gewicht hat durch das Amt auch seine Person. Ablesbar unter anderem an der Güteklasse des Autos, in dem er sich fortbewegt. Alles läuft über Prälaten, Bischöfe, Erzbischöfe und Kardinäle auch in dieser Beziehung auf den höchsten Amtsträger zu, den ranghöchsten Moderator. Auf den Papst und sein Papamobil. Aufgrund seiner Stellung hat er von allen Priestern die größte Chance, nach seinem Tode selig und danach heilig gesprochen zu werden. Oft ist es nur eine Frage der Zeit. Seine Anrede »Heiliger Vater« nimmt eine spätere Heiligsprechung ja schon vorweg.

Seiner Amtsbezeichnung nach ist der Papst als Nachfolger des Apostels Petrus der Stellvertreter Christi. Normalerweise hat ein Stellvertreter allenfalls die Befugnisse des abwesenden oder sonst wie verhinderten Amtsträgers. Darauf beschränkt sich der Papst aber nicht. Er hat sich im Laufe der Jahrhunderte Rechte herausgenommen, an die ein lebender Jesus nie gedacht hat, nie denken konnte. Denn der stand ja noch nicht an der Spitze einer Hierarchie; ihm unterstanden als Befehlshaber allenfalls himmlische Heerscharen, aber nicht diesseitige Priesterscharen. Lassen wir das einmal auf sich beruhen und billigen wir dem Papst zu, dass er tatsächlich einen direkten, den direktesten Draht zu dem hat, den er vertritt, und dass er als »lenkender Vermittler«, als Chef-Moderator sein größeres Jesus-Wissen in Enzykliken und anderen Botschaften unter Priester und einfache Gläubige bringt. Mit dem weltlichen Moderator Thomas Gottschalk hat er übrigens den häufigen Kostümwechsel gemeinsam. Er sitzt an der Schaltstelle, und wenn der Katholik im Credo seinen Glauben auch auf »unam sanctam ecclesiam catholicam«, eine einzige heilige katholische Kirche ausdehnt, dann achtet der Papst darauf, dass ja niemand, wie Franz Schubert in seinen sechs Messen, diesen Teil des Glaubensbekenntnisses weglässt.

Bei alledem ist in allen christlichen Kirchen unbestritten die Anerkennung von Jesus als Gottes Sohn, der seinen Vater Gott auf der Erde vertreten hat, mithin auch als eine Art Gott. Die Kirche aber ist mehr als eine Gotteskirche eine Christuskirche. Am Menschen Jesus, für Christen dem im Alten Testament angekündigten Messias, können sich Glaubensinhalte weit eher konkretisieren als an dem alle Vorstellungen sprengenden, doch im Kern abstrakten Gott. Wie wäre es aber, wenn Jesus selbst sich nicht als Hauptziel menschlicher Verehrung verstanden haben sollte, sondern nur als Vermittler göttlicher Wahrheit, Weisheit und Güte? Als Moderator mit besonderen Vollmachten? Freilich würde die gesamte christliche Kirche dann zusammenbrechen. Denn in ihr spielt Jesus als Christus und Gottes Sohn die Hauptrolle, nicht Gott selbst. Auf ihn und seine reine Leere berufen sich selbst scharfe Kirchenkritiker. Mag man noch soviel am Zustand der Kirche bemängeln – bei Jesus ist Endstation.

Wer ihm ans Leder will – allein dieser Ausdruck ist schon ein Sakrileg, eine Gotteslästerung – rüttelt an den Fundamenten des Glaubens. Befindet sich aber in bester Gesellschaft. So unterschied Lessing die »Religion Christi«, worunter er die Lehre des historischen Jesus, seinen Hinweis auf Gott verstand, von der »christlichen Religion« mit Jesus als Gegenstand der Anbetung. Diese Unterscheidung übt zweifellos Kritik an der Vergottung von Jesus.

Kein anderer als Goethe lehnte Kreuz und Kruzifix radikal ab, richtete seine Dichtungen immer an Gott persönlich, nicht an seinen wundertätigen Vermittler. In einem Beitrag zum »West-östlichen Divan« wendet sich ein lyrischer Dichter – sein armenischer Ursprung tut hier nichts zur Sache – mit der Anrede »Süßes Kind« an eine Geliebte. Er hat ihr eine Perlenkette geschenkt und bemerkt nun, dass sie »ein Zeichen dran gehängt hat«, das ihm am wenigsten gefällt. Gemeint ist das Kreuz. Doch Goethe umschreibt es mit »Hölzchen quer auf Hölzchen«. Mitzudenken ist in diesem Gedicht eine islamische Sehweise des Sprechers, nach der Jesus zwar ein Prophet war, aber nicht mehr, und keineswegs Gottes Sohn. Doch hat Goethe unter dieser Maske zweifellos auch seine eigene Anschauung versteckt:

Jesus fühlte rein und dachte
Nur den Einen Gott im stillen;
Wer ihn selbst zum Gotte machte,
Kränkte seinen heilgen Willen.

Offen konnte Goethe seine Einstellung zur Kirche so nicht äußern. Im Gedicht aber wird er noch deutlicher. Er wirft der Geliebten vor:

Mir willst du zum Gotte machen
Solch ein Jammerbild von Holze!

Eine unmissverständliche Ablehnung des Kruzifixes. In der letzten Strophe kommt es noch schlimmer. Was geschähe, wenn die Geliebte die Perlenkette mit dem Kreuz tatsächlich trüge? »ein Vitzliputzli [d.h. ein Schreckensbild, ein Teufel] würde / Talisman an deinem Herzen.« Im Klartext: aus dem Symbol für Gottes Sohn würde ein Abbild des Satans. Auf Anraten seines Freundes Boisserée hat Goethe dieses Gedicht nicht veröffentlicht, aber aus dem Nachlass wurde es dann doch bekannt.

Ausführlicher und unverhüllt hat Rainer Maria Rilke im »Brief des jungen Arbeiters« das Kennzeichen des Christentums aufs Korn genommen; »Ich kann mir nichts vorstellen«, heißt es da, »daß das Kreuz bleiben [so kursiv bei Rilke] sollte, das doch nur ein Kreuzweg war. Es sollte uns gewiß nicht überall aufgeprägt werden wie ein Brandmal. … Zwingt uns nicht immer zu dem Rückfall in die Mühe und Trübsal, die es ihn gekostet hat, uns, wie ihr sagt, zu ›erlösen‹. Laßt uns endlich dieses Erlöstsein antreten.« … Christus habe sich wie ein mächtiger Zeigefinger auf Gott hinweisen wollen. »Aber die Menschen sind wie die Hunde gewesen, die keinen Zeigefinger verstehen und meinen, sie sollten nach der Hand schnappen. Statt vom Kreuzweg aus … weiterzugehen, hat sich die Christlichkeit dort angesiedelt und behauptet, dort in Christus zu wohnen, obwohl doch in ihm kein Raum war … wie in jedem Weisenden, der eine Gebärde ist und kein Aufenthalt.«

Folgt man diesen Stimmen gegen die Erhöhung Jesu zum Sohn Gottes, dann wäre er als Mensch nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein besonders kompetenter Vermittler zwischen Gott und den Menschen. Ein Moderator der Gottesverehrung unter Aufhebung der Trinität, die bei unvoreingenommener Betrachtung von Anfang an den monotheistischen Charakter des Christentums auszuhöhlen drohte.

Ohne näher auf die Einzelheiten einzugehen, lässt sich behaupten, dass die christlichen Priester als »lenkende Vermittler« immer schon Muster für die nun zu Hauptpersonen aufgestiegenen »weltlichen« Moderatoren gewesen sind. Als Pastoren sind sie außerdem, wie ihr Name schon besagt, zugleich Hirten, und nicht von ungefähr ist der Bischofsstab seiner Herkunft nach ein Hirtenstab. Die Schafe, die sie zu hüten haben, sind ihre Gläubigen, die ursprünglich nicht lesen und schreiben konnten. Unmündig und lenkungsbedürftig. Die Pastoren, die Hirten, und sie allein, wissen immer, wohin es geht, und ihre Herde folgt ihnen willig und – das gehört sich für Schafe doch wohl so – lammfromm. Sollten die weltlichen Moderatoren auch in dieser Hinsicht den geistlichen vergleichbar sein?

Wer das Verhalten der Zuschauermassen beobachtet, die sich vor dem Moderator einer Unterhaltungssendung versammeln, stellt sehr bald fest, dass sie unten alles mitmachen, was der da oben von ihnen erwartet. Womit aber füttert dieser säkularisierte Pastor seine Schafe? Da genügt es nicht, sie nur zu amüsieren, was natürlich immer dabei sein muss. Um seine »Kunden« richtig einzuschätzen, muss der Moderator ihre Mentalität kennen und berücksichtigen. Sie sind eventgierig und idolsüchtig. Außerdem sind sie Anhänger des Aussteigerkults. Gelegentlich hat der Moderator das Glück, alle drei Bedürfnisse zu befriedigen. Das gelingt ihm weniger vor der tatsächlich in einem Saal versammelten Herde als im Fernsehen vor der viel größeren, Millionen zählenden latenten Masse vor den Bildschirmen. So kann ein Aussteiger schon zum Idol geworden sein, über den neue, überraschende, eventmäßige Vorfälle oder Enthüllungen zu berichten sind. Im kirchlichen, fast nur katholischen Bereich erfüllen diesen Anspruch manche Heilige. Nicht selten waren es ursprünglich Sünder und Aussteiger, die als Märtyrer zu Idolen aufgerückt sind und durch ihre Wundertätigkeit für Events gesorgt haben.

Geistliche und weltliche Moderatoren machen sich die Gesetze der Massenpsychologie zunutze und arbeiten als Menschendompteure wie Tierbändiger mit Zuckerbrot und Peitsche. Will sagen: mit einem System von Belohnung und Strafe. Sie setzen darauf, dass die meisten Menschen nichts um seiner selbst willen tun, sondern mit ihrem Tun immer einen bestimmten Zweck verfolgen. Im religiösen Bereich besteht dieser Zweck im Weiterleben nach dem Tode und, höher angesiedelt, in der ewigen Seligkeit. Indem Geistliche ihnen in der einen Hand dieses Zuckerbrot hinhalten, schwingen sie in der anderen gleichzeitig die Peitsche. Ihr kommt in den Himmel nur durch den Glauben, durch Gebete und die Erfüllung der von der Kirche vorgeschriebenen Verhaltenweisen. Weicht ihr aber davon ab, droht euch – dies die Peitsche in der anderen Hand – ewige Verdammnis oder zumindest ein schmerzhafter Aufenthalt im Fegefeuer. Lohn und Strafe, Zuckerbrot und Peitschenhiebe haben gemeinsam, dass Verheißung und Drohung sich auf das Jenseits beziehen. Auf das, was nach dem Tode kommt. Das aber lässt sich weder verifizieren noch falsifizieren, ist auf Glauben oder Vermutung angewiesen. Es bleibt also, vorsichtig gesagt, durchaus in der Schwebe, ob das, was die Moderatoren in Soutane oder Talar verkündet haben, dann, wenn es soweit ist, auch wirklich eintritt. Jedenfalls liegt derjenige nicht falsch, der sich an die Erkenntnis zweier Mönche hält, die unbedingt wissen wollten, wie es im Jenseits aussieht. Dem, was sie darüber in ihrer Kirche gehört hatten, trauten sie wohl nicht recht. Also trafen sie folgende Abmachung: Wer als erster stürbe, sollte dem noch Lebenden mit einem lateinischen Wort mitteilen, was er vorgefunden habe. Wenn es drüben genau so sei wie hüben verkündet wurde, solle er »totaliter« senden. Sei es aber anders, würde das Wertungswort »aliter« lauten. Nun stirbt einer von beiden tatsächlich. Und was lässt er im Traum dem anderen verlauten? »Totaliter aliter«. Unbeschadet solcher agnostischen Behauptung verlassen sich die geistlichen Moderatoren darauf, dass man ihnen ihre doch recht dezidierten Jenseitsvorstellungen immer noch abnimmt.

Den weltlichen Moderatoren, den Menschenbändigern vor der Kamera würden ihre Herden bei leeren Versprechungen und erst recht bei Drohungen weglaufen. Die Peitsch dürfen sie also bestenfalls zum Streicheln benutzen. Als Quizmaster aber haben sie die Vollmacht, Zuckerbrot in Form von hohen Geldsummen oder durch Verleihung von Phantom-Orden (»Leuchte des Nordens«) zu verabfolgen. Wie sich die latente Masse an den Bildschirmen in eine tatsächlich vorhandene Menschenansammlung verwandeln kann, das hat am eindrucksvollsten Gottschalk mit seinen Stadtwetten vorgeführt. Die tausend Braunschweiger, die bewegt wurden, sich möglichst schnell auf den Schlossplatz zu begeben, um dort nach Michael Jacksons Hit zu tanzen, hätten wohl auch unsinnigere Befehle des Moderators befolgt. Aber seien wir doch froh, dass die Moderatoren die ihnen hörigen Zuschauer noch im Zaum halten.

Rock- und Pop-Stars haben sich längst von ihnen emanzipiert oder sie zu bloßen Ansagern zurückgestuft. Die Bands auf der Bühne haben im Grunde nichts dagegen, dass ihre Fans mal außer Rand und Band geraten. Wer sich aber widerstandslos solchen Massenausbrüchen hingibt, wie sollte der sich gegenüber politischer Massensuggestion noch behaupten? Jedenfalls hat er das Recht verwirkt, den Mitläufern in beiden deutschen Diktaturen, der braunen und der roten, den Vorwurf zu machen, keinen Widerstand geleistet zu haben.

Offiziell sind die Diktatoren, ob sie nun Stalin, Hitler oder Mao hießen, nur als »lenkende Vermittler« von Ideen oder weltverbessernden Ideologien aufgetreten, als Moderatoren höherer Zwecke. Diese wurden aber von den Volksmassen, die ihren demagogischen Reden Glauben schenkten, dem Personenkult untergeordnet. Als »lenkende Vermittler« ihrer Parteiprogramme verstehen sich auch Politiker in Republiken; denn nach Wahlniederlagen erklären manche von ihnen, es sei ihnen leider nicht gelungen, ihre Vorstellungen künftiger Politik zu vermitteln, die doch viel besser seien als die der Wahlsieger. Sie bekennen also, schlechte Moderatoren gewesen zu sein. Wenn Bismarck sich als »ehrlichen Makler«, also uneigennützigen Vermittler bezeichnete, so würden demokratische Politiker sich kaum dagegen wehren, auch so genannt zu werden. In der Wirtschaft haben dagegen die kommerziellen Makler, die Haus- und Grundstückverkauf oder den Umschlag von Waren vermitteln, den Ruf, zuviel selbst an der Vermittlung zu verdienen. Der Vorwurf lässt sich ohne weiteres auf Politiker übertragen. Welche Marge, welche Vermittlungsgebühr, welche Vorteilsnahme darf man einem Abgeordneten oder Minister zubilligen, ohne dass ihm die Anerkennung als ehrlicher Makler entzogen wird?

Im Gegensatz zu den geistlichen Moderatoren, deren jenseitige Zukunftsbilder nicht überprüft werden können, müssen die weltlichen Moderatoren, in diesem Falle die Politiker, damit rechnen, dass nach der Wahl kontrolliert wird, ob sie ihre Versprechungen eingehalten haben oder nicht. Die Antwort wird wie bei den Mönchen auch für das Diesseits lauten: Totaliter aliter!

Moderatoren haben Macht, das steht außer Frage. Sind wir Nicht-Moderatoren ihnen deswegen hilflos ausgeliefert? Wie können wir, wenn der Moderator den Ton angegeben hat, uns weigern, mit der Masse ins gleiche Horn zu tuten? Werden wir nicht immer wieder von der Nestwärme der Herde verlockt, bei ihr zu bleiben? Doch bei allem Widerstandswillen können wir nicht übersehen, dass die meisten Menschen jemand brauchen, der ihnen sagt, wo es entlang geht. Das steckt indirekt auch in der neuerdings bei Politikern so beliebten Redewendung, sie hätten »etwas auf den Weg gebracht«. Für uns alle natürlich. Wir würden dann schon hinterher trotten.

Immer wieder in Frage stellen, was die Moderatoren uns vorschreiben wollen. Aus der allgemeinen Marschrichtung ausscheren. Uns gegen Bevormundung über den Bildschirm, aus Priester- oder durch Politikermund wehren. Und jegliche Moderatoren und ihr Moderieren in die Schranken verweisen. Berechtigte Verehrung verdienstvoller Menschen nicht zum Personenkult ausarten zu lassen. Das, was vermittelt werden soll, immer für wichtiger halten als die Vermittler. Das können wir tun.

›Federhalter‹ für diesen dritten Beitrag ist ©Dr. Wolfgang Butzlaff (Kiel), dem wir sehr herzlich danken – und seine Gedanken zur Diskussion stellen.

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Datum: Samstag, 8. Oktober 2011 19:28
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