Leseprobe: Goethe und die Pädagogen (C. Günzler)
Wer sich vom Druck der Aktualitäten distanzieren will, muss die Vergangenheit befragen, denn nur vom Gestern her wird der ruhige und klare Blick auf das Heute frei, nur so entsteht die Chance zu einer kritischen Analyse aktueller Tendenzen. Dies gilt auch für das Verständnis von Bildung, also für die Pädagogik und da vor allem für die Frage, welchem Ziel die allgemeinbildenden Schulen verpflichtet sind, und hier führt kein Weg an Goethe vorbei. Niemand sonst hat so realistisch und so fundamental über die Bildung nachgedacht wie er, und dies im Rahmen einer Zeitkritik, die schon um 1800 herum Risiken benennt, deren Tragweite wir erst jetzt in vollem Umfang spüren.
Philosophie und Naturwissenschaften haben das längst bemerkt und widmen Goethes Verständnis von Natur und Naturforschung großes Interesse[1], die Literaturwissenschaft betreibt wie eh und je ihre hochdifferenzierte Goethe-Forschung[2], und die Theaterbühnen setzen regelmäßig Goethes Dramen auf den Spielplan, vor allem Faust I, Iphigenie, Clavigo, Stella und Tasso. Da überrascht es, dass sich die pädagogische Theorie in den letzten vier Jahrzehnten fast völlig von Goethe abgewandt hat. Dies ist ein gravierendes Defizit, das aber weder Eltern noch Lehrerschaft schrecken muss, denn wenn die theoretischen Pädagogen wichtige Orientierungsquellen vernachlässigen, dann kann sich die pädagogische Praxis immer noch selbst darum bemühen, hier Grundsatzperspektiven für die Meisterung des Bildungsalltags zu gewinnen. Goethe bietet ein breites Spektrum solcher Perspektiven, und ich möchte einige davon skizzieren, weil ich davon überzeugt bin, dass sie jedermann zum Nachdenken anregen, besonders aber alle, die mit einem Goethe-Gymnasium verbunden sind.
Goethe war, wie er 1798 an Friedrich Schiller schreibt, »bei jeder Art von Tätigkeit … vollkommen idealistisch«, doch »als ein beschauender Mensch ein Stockrealiste.«[3] Dieser Realismus des Erkennens lässt ihn zu Beginn des 19. Jahrhunderts nüchtern feststellen, dass die Zeit, aus der er herkam, unwiderruflich vorbei sei und die zunehmende Industrialisierung einen radikalen Umbruch aller Lebensverhältnisse nach sich ziehen werde. Wir erleben heute Ähnliches, denn wir sind vom 20. Jahrhundert geprägt und stehen noch ziemlich ratlos vor den neuen Problemen, die das 21. Jahrhundert aufwirft. Der Umbruch der Zeiten löst auch heute Unsicherheit und Verdruss aus, führt zu kurzatmigem Aktivismus und zieht auch das Bildungswesen in diesen allgemeinen Sog hinein. Ohne Zweifel hätte dabei manches, was heute auf der schulpolitischen Tagesordnung steht, Goethes Zustimmung gefunden, so zum Beispiel der Versuch, jeder einzelnen Schule die Freiheit einzuräumen, ein eigenes Leitbild zu entwerfen und daraus ein charakteristisches Gesicht zu entwickeln, denn einer flächendeckend organisierten Bildung stand er skeptisch gegenüber. Wir nennen das heute Schulprofil, und auch diesen Terminus hätte Goethe wohl akzeptiert, doch er hätte vehement gegen den bildungspolitischen Kontext protestiert, in dem solche altbekannten Elemente des Schulwesens als hochmoderne Innovationen nahegelegt werden. Seit es Schulen gibt, haben diese sich in Anspruch und Klima voneinander unterschieden, und je überzeugender eine Schule dies getan hat, desto verlässlicher war sie als Partner für Schüler und Eltern. Was man den Ruf einer Schule nannte, war das Ergebnis der dort geleisteten Arbeit und schloss den Willen ein, das einmal erreichte Niveau zu halten, doch es hatte nichts mit dem künstlichen Versuch zu tun, sich auf dem vermeintlichen Bildungsmarkt als Markenartikel zu präsentieren, also das Schulprofil als werbestrategische Maßnahme vor sich her zu tragen.
In solchen Punkten zeigt sich, wie grundlegend sich die Zeiten geändert haben, und Goethe würde wohl fragen, ob wir noch Bildung meinen, wenn wir von Bildung sprechen. […]
::: Weiterlesen in: Claus Günzler: Goethe und die Pädagogen – Vom Bildungsbegriff zum Schulprofil, in: Goethe-Blätter. Schriftenreihe der Goethe-Gesellschaft Siegburg e.V., Bd. IV, 1. Aufl., Bonn 2008, S. 185-204.
(ISBN 978-3-9809762-4-4 / ISSN 1867-3902, 320 S., Euro 29,80)
[1] Vgl. exemplarisch: F. Amrine, F. J. Zucker, H. Wheeler (Hrsg.), Goethe and the sciences – A Reappraisal. In: Boston Studies in Philosophy of Science, Vol. 97, Dordrecht, Boston 1987. Ferner: G. Altner, Naturvergessenheit – Grundlagen einer umfassenden Bioethik, Darmstadt 1991.
[2] Siehe vor allem das jährlich erscheinende Goethe-Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft Weimar.
[3] Goethe, Briefe, Hamburger Ausgabe (HA Briefe), hrsg. v. K. R. Mandelkow, Bd. 2, S. 339.