Leseprobe – Norbert Weis: Circus Scribelli …
[…] Max Frisch beklagt in seinem Tagebuch 1946–49 die Schwierigkeit, »ein Rezensent zu sein«. Auch Theodor Fontane beginnt seine Besprechung von Gerhart Hauptmanns Theaterstück Vor Sonnenuntergang mit einem Stoßseufzer: »Es ist«, schreibt er, »nie ganz leicht, zu kritisieren, und mitunter ist es schwer.«
Tatsächlich scheint es so zu sein. Aller Regeln und Grundsätze ihres Metiers zum Trotz geriet sich vor Jahren Deutschlands Kritikerelite in die Haare über die Frage, ob denn Johannes Mario Simmels Romane kritikwürdig seien oder nicht. Autoren ihrerseits hielten den Rezensenten ihrer Bücher vor, »mit traumwandlerischer Sicherheit am Wesen von Literatur vorbei« zu kritisieren. Außerdem verzerrten Missgunst und Hybris ihre Urteilskraft, was zur Folge habe, dass ihr Treiben, schäbig, wie es einmal sei, den gesamten Berufsstand in Misskredit bringe …
Was also, bitte, ist Kritik? Auf welche Kriterien, auf welche Theorie soll sie sich verbindlich berufen und damit für »jeden Urteilenden überhaupt« (Kant) Gültigkeit haben? Erfahrung lehrt indes: Was gestern galt, muss heute nicht mehr gelten. Jörn Uhl, der 1901 erschienene Roman des Pastors Gustav Frenssen, war einst ein Kassenschlager par exzellence, gepriesen, gefeiert von Leserschaft und Rezensenten. Heute ist das Werk vergessen oder wird, wo nicht, als geschwätzig abgetan. Ist Kritik am Ende also doch nichts weiter als – analog der Theologie – die Hohe Kunst der Vermutung: Alle reden tapfer mit, doch keiner weiß Bestimmtes?
Goethe kam bei der Beschreibung seines kritischen Instrumentariums noch mit drei Fragezeichen aus: Erstens: Was hat der Autor vorgesetzt? Zweitens: Ist dieser Vorsatz vernünftig und verständig? Drittens: Ist es ihm gelungen, ihn auszuführen? Heinrich Heine forderte dagegen, dass das Kunstgenie »nach seiner eigenen mitgebrachten Ästhetik« beurteilt werden müsse. Ludwig Börne hat dann die knifflige Frage für sich so entschieden, indem er frank und frei bekannte, dass er von Theorien der Kunst und Kritik nichts weiß und auch nichts wissen wolle, basta und punktum. Marcel Reich-Ranicki schließlich, befragt nach der Beschaffenheit seines kritischen Bestecks, habe (so berichtet Siegfried Lenz) »in tadelloser Verlegenheit« nur die Achseln gezuckt …
Entsprechend polyphon kommt Kunstkritik denn auch daher. »Da trifft man dann das gute alte Geschmacksurteil«, schreibt Walter Hinderer in seiner Ornithologie der Kritik, »den wackeren gesunden Menschenverstand, die subjektive Gaumenfreude, das rotwangige Gefühlsurteil, den gewürzten Kunstverstand, die ätzende Reflexion, die zarte Einfühlung oder biedere Moraltrompete, das trampelnde politische Dogma, die säuselnde Ideologiekritik oder auch die Humanitätsfanfare.« Dass man die Dinge auch ganz anders sehen kann, nämlich mit beißendem Spott, hat schon im 18. Jahrhundert der Satiriker Christian Ludwig Liscow in seiner noch immer mit Vergnügen zu lesenden Schrift über die Vortrefflichkeit und Nothwendigkeit der elenden Scribenten gezeigt, wo er besagte Autoren, in deren »Schriften also weder Vernunft, noch Ordnung, noch Zierlichkeit anzutreffen« sei, wie folgt gegen die »guten« verteidigt:
»Da man nun ohne Vernunft ganze Völker regieren, Länder erobern, Schlachten gewinnen, Seelen bekehren, Rechtshändel entscheiden, Pillen drechseln, Recepte verschreiben, und ein Weltweiser seyn kann: so möchte ich wohl wissen, warum es dann nicht auch erlaubt seyn soll, ohne Vernunft ein Buch zu schreiben? … Unvernünftige Thaten lässet man ungeahndet hingehen; aber eine unvernünftige Schrift zu machen, ist eine unvergebliche Missethat.«
Nun, bei der Frage, was Kritik denn eigentlich und wirklich sei, hilft solcher Jux nicht weiter. Vielleicht lässt sich aber doch immerhin mit einiger Bestimmtheit sagen, dass Kritik die Inanspruchnahme des Rechts ist, »öffentlich nein zu sagen«. Für Immanuel Kant war sie, wie für Lessing im Fragmentenstreit, verknüpft mit der Idee der Aufklärung, die ihrerseits »der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« war. »Unser Zeitalter ist das Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß«, heißt es in seiner Kritik der reinen Vernunft; nur das, was sich durch »freie und öffentliche Prüfung bewährt«, verdiene unsere Achtung.
Der kritische Kopf war sich also selbst verantwortlich; er hatte, so Kant, den »Mut« aufzubringen, sich seines »eignen Verstandes zu bedienen«. Seines eigenen, wohlgemerkt, der, wenn er (nach des Philosophen Meinung) vernünftig operierte, allgemeingültigen, also verbindlichen Regeln entsprach. Zu Kants Tagen war so viel selbstherrliches Räsonieren freilich nicht ganz ungefährlich (ist es bekanntlich auch heute noch nicht immer und überall); den »Vormündern« seiner Zeit konnten solche Lehren, die auf die Selbstbestimmung ihrer Untertanen pochten, nicht gleichgültig sein. »Räsoniert wie ihr wollt«, sagte der Alte Fritz, »aber gehorcht!«
Die Geschichte der Literatur, nicht nur die deutsche, ist voll von tragischen Figuren, die den »Mut« zur Kritik (gar zur öffentlich geäußerten Sozialkritik) aufbrachten und dafür bitter büßen mussten: Christian F. D. Schubart etwa, Dichter und Musiker seines Zeichens, wurde seiner freimütigen Schreibe wegen, die er in der von ihm 1774 gegründeten ›Deutschen Chronik‹ unters Volk zu bringen suchte, von seinem württembergischen Landesherrn für ein rundes Jahrzehnt auf der Festung Hohenasperg hinter Kerkermauern festgesetzt.
Auch Lessing und Kant standen immer wieder mit einem Bein im Gefängnis; dass man sie »nur« mundtot machte, als sie Dinge zur Sprache brachten, die nach dem Verständnis ihrer Oberen nicht zur Sprache zu bringen waren (schließlich ging es um Macht und Pfründe der Hohen Herren), war weniger ihrem Glück als ihrer über Landesgrenzen hinausgehenden Popularität zu danken. Wiederholung der Geschichte: »Man sperrt einen Voltaire nicht ins Gefängnis«, soll Charles de Gaulle gesagt haben, als man ihm riet, den oppositionellen Sartre verhaften zu lassen. So ähnlich mögen zwei Jahrhunderte zuvor die absolutistischen Herrscher empfunden haben – oder fühlten sich gedrängt, so zu empfinden.
Leute wie Johan Melchior Goeze standen, wie wir gesehen haben, noch fest verwurzelt in den Wertvorstellungen absolutistischer Macht. Er selbst, Pastor von St. Katharinen, verstand sich als Verwalter des christlichen Glaubens, der das »Recht zum letzten Wort« (Kant) für sich in Anspruch nahm, – ganz so, wie der Fürst in Sachen der Kunst bestimmte, was gefiel, was zu gefallen hatte. Was nicht zu gefallen hatte, galt auch noch vor weniger als hundert Jahren im Deutschen Reich als »entartete Kunst«.
Auch Aristoteles mit seiner Forderung, das in der Natur unvollendet Gebliebene durch Kunst zur Vollendung zu bringen, regulierte künstlerischen Schaffensdrang. Erst Lessing suchte die Empfindungen des Kunstgenießenden ins Kunsturteil mit einzubeziehen. Von daher sollte für ihn das kritische Wort Anlass sein zu eigenem Denken; es war, wie der von ihm verehrte Moses Mendelssohn befand, Anreiz zu einer »Gymnastik des Geistes«. Lessing:
»Man scheint vergessen zu wollen, dass die Aufklärung so mancher wichtiger Punkte dem bloßen Widerspruch zu danken ist, und dass die Menschen noch über nichts einig würden, wenn sie noch über nichts in der Welt gezankt hätten.« Das Falsche erkennen und der Wahrheit wegen widerlegen: »Er [der kritische Schriftsteller] suche sich nur erst jemanden, mit dem er streiten kann: so kömmt er nach und nach in die Materie, und das übrige findet sich.« […]
Quelle:
Norbert Weis: Circus Scribelli. Über Grobiane, Streithähne und andere lautstarke Gestalten in der deutschen Literatur. Mit zahlreichen s/w Abbildungen, geb., 250 S., 1. Aufl., Bonn: © Bernstein-Verlag 2009, ISBN 978-3-939431-09-1, Euro 14,80 (S. 69–72).