Fremde Feder #5

Jean-Jacques Rousseau
und die Erklärung der Menschenrechte

Jean-Jacques Rousseau hatte den Plan, in einem umfassenden Werk seine politischen Gedanken auszusprechen. Dieser Plan wurde jedoch nur zum Teil ausgeführt. Im Jahre 1762 veröffentlichte er als Bruchstück dieses vorgesehenen Werkes den »Contrat social«. Außerdem können wir seine politischen und sozialen Ideen noch nachlesen in den »Considérations sur le gouvernement de Pologne«, im »Projet de constitution pour les Corses«, im »Discours sur l’inégalité« und schließlich im Erziehungsroman »Émile« sowie in den »Lettres de la Montagne«, die beide die Gedanken des »Contrat social« wiederholen und erweitern. Auf die einzelnen Ideen des »Contrat social« wird später noch näher eingegangen. Hier sei nur soviel gesagt, daß die darin niedergelegte Theorie nicht durchweg Neues bringt. Viele darin enthaltene Sätze waren bereits vorher ausgesprochen worden, z.B. von Hobbes, Locke und anderen Rechtsphilosophen.

Das wesentlich Neue in Rousseaus »Contrat social« war, daß er den Herrschaftsvertrag aus der Vertragstheorie strich. Hobbes hatte ebenfalls einen Vereinigungsvertrag angenommen, durch den die gesellschaftliche Ordnung begründet werde; außerdem aber noch einen Herrschaftsvertrag, kraft dessen das Volk sich seiner Souveränität zugunsten eines Herrschers entäußere. Nach Hobbes hatte das Volk durch den Unterwerfungsvertrag seine Freiheitsrechte geradezu aufgegeben, und damit war die absolute Rechtlosigkeit der Untertanen gegen den Herrscher begründet. Diesem System des Absolutismus gegenüber kennt Rousseau keinen Vertrag, durch den das Volk seine Rechte an einen Einzelnen verliert. Für ihn ist im Gegenteil allein der Wille des Volkes maßgebend, er allein schafft Gesetze. Diese im »Contrat social« niedergelegte Theorie der Volkssouveränität ist es hauptsächlich, die Einfluß auf die Französische Revolution ausgeübt hat und darüber hinaus bis in die Gegenwart dem politischen Leben immer neue Impulse verleiht.

Man hat Rousseau vielfach den Vorwurf gemacht. Er habe den Gesellschaftsvertrag als ein Faktum aufgefaßt. Im Genfer Manuskript des »Contrat social« heißt es jedoch an einer Stelle:

Il y a mille manières de rassembler les hommes, il n’y a qu’une de les unir. C’est pour cela que je ne donne dans cet ouvrage qu’une méthode pour la formation des sociétés politique, quoique dans la multitude d’aggrégations qui existent actuellement sous ce nom il n’y en ait peut-être pas deux qui aient été formées de la même manière, et pas une qui l’ait été selon celle que j’établis. Mais je cherche le droit et la raison et ne dispute pas de faits. [Es gibt tausend Arten, die Menschen zusammenzubringen; es gibt nur eine, sie zu einen. Daher gebe ich in diesem Werk nur eine Methode für die Bildung von politischen Gemeinschaften an, obgleich es in der Fülle von Gemeinwesen, die gegenwärtig unter diesem Namen bestehen, vielleicht nicht zwei gibt, die auf dieselbe Weise gebildet worden sind, und nicht eine auf die Art, die ich darlege. Aber ich suche das Recht und die Vernunft und streite nicht über Tatsachen.]

Man hat des öfteren Rousseau in die verschiedensten Parteirichtungen eingruppieren wollen, indem man einzelne Sätze aus seinem Werk herausriß, die sich zusammenhanglos allerdings für diese oder jene Theorie verwerten ließen. Nichts kann aber verkehrter sein, als ihn unter eine Schablone bringen zu wollen. Seine Sozialphilosophie, als Ganzes genommen und richtig aufgefaßt, weist nur in den Hauptpunkten formalen Charakter auf und läßt für höchst verschiedene positivrechtliche Ordnungen des politischen und wirtschaftlichen Lebens freien Raum.

Wenden wir uns nun der »Erklärung der Menschenrechte« zu, um sie nach kurzer Charakteristik mit der Ideenwelt Rousseaus in Beziehung zu setzen.

Um die Entstehung einer solchen Erklärung verstehen zu können, muß man einen Blick auf die Rechtsphilosophie werfen. Grotius unterschied das historische Recht vom natürlichen Recht zum ersten Mal begrifflich und leitete das erstere aus der Willkür des Menschen und dem Verlaufe der Geschichte, das letztere aus der unabänderlichen und ewig gleichen Natur des Menschen ab. Das Naturrecht erklärte Grotius als etwas mit dem Naturzustande des Menschen Gegebenes und den Staat als eine von den Menschen zur besseren Wahrung dieses ihres ursprünglichen Rechtes geschlossene Gemeinschaft. Infolgedessen gewöhnte man sich im 17. und 18. Jahrhundert an, das Recht als etwas dem Staatsleben Vorhergehendes und den Staat als ein Mittel zur Wahrung desselben zu betrachten. Mit der Kritik an den bestehenden Staatseinrichtungen begannen die Auswirkungen auf das politische Leben.

Der Gedanke einer Erklärung der Menschenrechte wurde erstmalig in Nordamerika in die Tat umgesetzt, und zwar durch Virginien im Jahre 1776. Die anderen amerikanischen Staaten, die sich ja kurz zuvor von England freigemacht hatten, folgten diesem Beispiel. Man kann jedoch nicht sagen, daß hierbei eine revolutionäre Handlung vorlag. Hier in Amerika war es im Gegenteil eine kontinuierliche Entwicklung.

Anders in Frankreich. In den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts tauchte auch hier der Gedanke an eine feierliche Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte auf. Als die Nationalversammlung 1789 zusammentrat, wurde von verschiedenen Seiten eine solche Erklärung vorgeschlagen. An die dreißig Projekte wurden eingereicht. Schließlich nahm man eines, nämlich das des 6. Büros (die Büros waren Ausschüsse der Nationalversammlung) als Diskussionsgrundlage an. Am 22. August 1789 begann die Debatte, am 26. August wurde die Erklärung verabschiedet. Proklamiert wurde sie später auch mit der Verfassung vom 3. September 1791.

Sie setzt sich aus einer Präambel und 17 Artikeln zusammen. In der Präambel wird der Zweck einer solchen Erklärung bestimmt. Es heißt da u.a., der Grund der allgemeinen Verderbtheit sei die Mißachtung der natürlichen Rechte des Menschen. Die feierliche Erklärung dieser Rechte solle diese allen Gliedern des Volkskörpers ständig vor Augen halten. Gesetzgebende und ausführende Gewalt sollen diese Rechte als Richtlinien für ihre Verordnungen und Maßnahmen beachten. Auf einzelne Artikel werde ich später beim Vergleich mit Rousseau eingehen.

Die Bedeutung dieser Erklärung für die moderne Verfassungsgeschichte scheint unbegrenzt. Durch die französische Erklärung sind die Freiheitsgedanken in die europäischen Konstitutionen eingedrungen. In fast allen Verfassungen, die infolge der Französischen Revolution entstanden, finden sich entsprechende Artikel oder selbständige Erklärungen. So auch in der deutschen Verfassung der Paulskirche von 1848, wo man allerdings mehr praktische Anweisungen als theoretische Deklarationen abgab. Auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland steht die Erklärung der Menschenrechte wieder an erster Stelle. Einige Artikel unserer Verfassung stimmen sinngemäß mit der Erklärung von 1789 überein. So lautet Artikel 2, Absatz 1 des Grundgesetzes: Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. In der »Déclaration des droits« heißt es in Artikel 4:

La liberté consiste à pouvoir faire tout ce qui ne nuit pas à autrui; ainsi l’exercice des droits naturels de chaque homme n’a de bornes que celles qui assurent aux autres membres de la société la jouissance de ces mêmes droits. Ces bornes ne peuvent être déterminées que par la Loi. [Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was keinem anderen schadet; so hat die Ausübung der natürlichen Rechte jedes Menschen keine Grenzen als diejenigen, welche den anderen Mitgliedern der Gesellschaft den Genuß dieser gleichen Rechte sichern. Diese Grenzen können nur durch das Gesetz festgelegt werden.]

Dies sei nur ein Beispiel, um die ständig fortdauernde Wirkung der Erklärung unter Beweis zu stellen.

Von verschiedenen Standpunkten aus ist man im Laufe der Zeit zu vollkommen gegensätzlichen Beurteilungen gekommen. Einerseits kam man zu dem Resultat, daß die Erklärung einen nicht geringen Anteil an der Anarchie habe, von der Frankreich nach dem Sturm auf die Bastille heimgesucht wurde. Ihre abstrakten Formeln werden als vieldeutig und darum gefährlich nachgewiesen; als jeder politischen Realität und praktischen staatsmännischen Erkenntnis bar. Als Beispiel einer derartigen Auffassung führe ich das Urteil Taines an, das dieser in »Les origines de la France contemporaine. La Révolution« ausgesprochen hat. Er sagt:

Dans le déclaration de l’Assemblée nationale, la plupart des articles ne sont que des dogmes abstraits, des définitions métaphysiques, des axiomes plus ou moins littéraires, c’est-à-dire plus ou moins faux tantôt vagues et tantôt contradictoires, susceptibles de plusieurs sens et de sens opposés, bons pour une harangue d’apparat et non pour un usage effectif, simple décor, sorte d’enseigne pompeuse, inutile et pesante qui, guindée sur la devanture de la maison constitutionelle et secouée tous les jours par des mains violantes, ne peut manquer de tomber bientôt sur la tête des passants. [In der Erklärung der Nationalversammlung sind die meisten Artikel nur abstrakte Dogmen, metaphysische Definitionen, mehr oder weniger literarische, d.h. mehr oder weniger falsche Grundsätze, bald unbestimmt und bald widerspruchsvoll, geeignet für mehrere Auslegungen und für gegensätzliche Bedeutungen, gut für eine bombastische Rede und nicht für den wirkungsvollen Gebrauch, nichts weiter als Schmuck, eine Art pompeuses Banner, bei dem es, da es auf der Vorderseite des Verfassungshauses festgeschraubt ist und täglich von heftigen Händen hin- und hergerissen wird, nicht ausbleiben kann, daß es bald auf die Köpfe der Vorübergehenden fällt.]

Andererseits hat es natürlich namentlich in Frankreich nicht an Männern gefehlt, die die Erklärung als weltgeschichtliche Offenbarung gepriesen haben; als Katechismus der Prinzipien von 1789, die die ewige Grundlage der staatlichen Ordnung bilden; ja sogar als das kostbarste Geschenk, das Frankreich der Menschheit gegeben hat.

Wie man jedoch auch urteilen mag – unbestritten bleibt die Tatsache, daß sich unter dem Einfluß dieses Manifests auf dem europäischen Kontinent die Vorstellung vom subjektiven öffentlichen Recht des Individuums entwickelt hat.

Wir kommen nun zum Kernproblem dieses Essays, zur Abhängigkeit der Erklärung von Rousseau und zum Verhältnis beider Richtungen zueinander. Als erster hat Wilhelm Rees eine Trennung durchgeführt zwischen existenzieller und substantieller Abhängigkeit der Erklärung. Wenden wir uns zunächst der existentiellen Abhängigkeit zu mit der Frage: Kann man die Entstehung einer solchen Erklärung auf Rousseau zurückführen?

Sehr lange hat man die Erklärung tatsächlich nur aus den Nachwirkungen von Rousseaus Lehre erklären wollen. Dazu muß zunächst festgestellt werden, daß Rousseau an keiner Stelle seiner Werke den Gedanken einer derartigen Manifestierung ausgesprochen hat. Er sagt im Gegenteil in der Einleitung zum »Contrat social« zur Begründung dieses Werkes:

Si j’étais prince ou législateur, je ne perdrais pas mon temps à dire ce qu’il faut faire; je le ferais ou je me tairais. [Wenn ich Fürst oder Gesetzgeber wäre, würde ich nicht meine Zeit damit verlieren, zu sagen, was getan werden muß; ich würde es tun oder ich würde schweigen.]

Die französische Nationalversammlung hatte nun aber die Gewalt zu tun, was nötig war. Statt dessen wurden über vier Monate lang Entwürfe über Entwürfe ausgearbeitet, vorgelegt, zurückgewiesen, umgearbeitet, wieder vorgelegt und diskutiert. Hier zeigt sich also schon ein deutlicher Gegensatz zu Rousseau. Und doch hat man sich während der Revolutionsjahre vielfach auf ihn berufen. So sagte Mirabeau einmal: Schon vor der Unabhängigkeit des englischen Amerikas ist der »Contrat social« erschienen. Der philosophische Republikaner hat die Helden der Freiheit [d.h. die Amerikaner] aufgeklärt. Er allein hat durch das Studium der natürlichen Rechte des Menschen die wirkliche Grundlage der Gesellschaft aufgedeckt. Man sollte niemals von der Freiheit sprechen, ohne diesem unsterblichen Rächer der menschlichen Natur den Tribut unserer Huldigungen darzubieten. Und ein anderer Abgeordneter der Nationalversammlung sagte mit Beziehung auf Rousseau: Die Lage der Menschen im Naturzustand hat ein unsterblicher Autor zu erschöpfend dargestellt, als daß wir uns hier neuen Diskussionen hinzugeben brauchten. An uns ist es, von diesem Werk zu lernen. Taine sagt dagegen in seinem »Ancien régime« (L’origine de la France contemporaine): Folgte aus dem »Contrat social« die Forderung einer Erklärung der Rechte, so hätte doch nicht mehr als ein Vierteljahrhundert seit seinem Erscheinen verfließen können, ehe sie erhoben wurde.

In der Tat ist das Verhältnis des einzelnen zum Staat im »Contrat social« ein vollkommen anderes als in der Erklärung der Menschenrechte. Während nämlich bei den Männern von 1789 das Recht des Individuums klar im Vordergrund stand, ein Recht, das der Staat unter allen Umständen zu respektieren habe, besteht bei Rousseau der Gesellschaftsvertrag nur in einer einzigen Klausel, nämlich der vollen Entäußerung aller Rechte des Individuums an die Gesellschaft. Der einzelne behält kein Recht für sich, sobald er in den Staat eintritt. Alles, was er an Rechten erhält, bekommt er von der volonté générale, die allein über ihre Grenzen entscheidet und von keiner Macht rechtlich beschränkt werden darf und kann. Darüber hinaus aber kann nach Rousseau der durch den Gesellschaftsvertrag gebildete Souverän – nämlich die Gesamtheit der Assoziierten – sich kein Gesetz auferlegen, das er nicht überschreiten könnte: Il est contre la nature du corps politique que le souverain s’impose une loi qu’il ne puisse enfreindre … il n’y a ni ne peut y avoir nulle erspèce de loi fondamentale obligatoire pour le corps du peuple. Daraus geht wohl einwandfrei hervor, daß eine Erklärung von unveräußerlichen Rechten in diesem politischen System keinen Sinn hätte, da der Souverän ja gar nicht an sie gebunden wäre.

In den Kreisen der Abgeordneten wollte man zum Teil eine Erklärung aufstellen, die für die gesamte Menschheit Gültigkeit besitzen sollte. Wie schwierig es ist, eine solche allgemein anerkannte Formulierung zu finden, zeigte sich nach dem Zweiten Weltkrieg, als dies im Rahmen der Vereinten Nationen, besonders von amerikanischer Seite, ins Auge gefaßt wurde. Wenn man dennoch diesen Plan verwirklichen wollte, könnte es sich dabei nur um eine Aufstellung der Menschenrechte handeln. Die Erklärung wollte jedoch Menschen- und Bürgerrechte festsetzen. Man kann beide Begriffe aber unmöglich gleichsetzen, bevor nicht ein Weltstaat geschaffen ist. Von diesem war man damals aber noch weiter entfernt als heute. Rousseau dagegen macht diese Trennung zwischen Menschen- und Bürgerrechten deutlich: Outre le maximes communes à tous, chaque peuple renferme en lui quelque cause qui les ordonne d’une manière particulière, et rend sa législation propre à lui seul.

Rousseau hat auch klar die Gefahr erkannt, die aus einer Überbetonung der Privatrechte entstehen mußte. Wenn dem Individuum noch Privatrechte verblieben, so würde es, in einem Bereich sein eigener Richter geblieben, bald auch verlangen, es in allen zu sein. Der Naturzustand, d.h. der Zustand vor der Schließung des Gesellschaftsvertrages, würde wieder eintreten und die Vereinigung zwecklos oder tyrannisch werden. Rousseau sah hier die Gefahr, daß der Staat sich auflösen könne, und die Erklärung der Menschenrechte hat ja auch tatsächlich in gewissem Maße zu den anarchischen Zuständen beigetragen, die während der Revolutionsjahre in Frankreich herrschten.

Eine weitere Frage, über die in den Debatten heftig gestritten wurde, war das Problem, ob man neben den Rechten auch gleichzeitig die Pflichten erklären solle. Einige Projekte befaßten sich denn auch mit gesonderten Pflichtenerklärungen, aber die Mehrzahl der Abgeordneten war entschieden dagegen. Im allgemeinen Taumel der liberté – égalité – fraternité hätte dies einen zu starken Dämpfer bedeutet. Nur in der Präambel war später von Rechten und Pflichten die Rede. Wenn man aber in dieser Erklärung die Prinzipien für eine kommende Verfassung festlegen wollte, wie es allgemein von der Nationalversammlung angekündigt und auch in der Präambel ausgesprochen wurde, dann durfte man unmöglich die Pflichten außer acht lassen; denn das Wesen jeder Verfassung besteht ja darin, daß sie Rechte und Pflichten von Regierenden und Regierten gegeneinander abgrenzt.

Rousseau hebt in seinem Kapitel über die Grenzen des Souveräns hervor, daß es sich darum handele, die gegenseitigen Rechte der Bürger und des Souveräns und ihre Pflichten zu unterscheiden. Obgleich es sich ja in der Erklärung nicht um eine Verfassung handelte, konnte es doch unmöglich im Sinne Rousseaus sein, die Rechte des einzelnen allein zu proklamieren.

Nach alledem kann man wohl behaupten, daß eine existentielle Abhängigkeit der Erklärung von Rousseau sehr in Frage gestellt ist. Wenn man sich in den Revolutionsjahren dennoch auf ihn berufen hat, so mit Recht nur in Beziehung auf einzelne Artikel, nicht aber auf das Vorhandensein der »Déclaration« überhaupt. Der deutsche Staatsrechtler Georg Jellinek war der erste, der 1895 in seiner Schrift »Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte« die Abhängigkeit der Erklärung von Rousseau gänzlich ablehnte. Er erntete damit auf Seiten der Franzosen wilde Haßausbrüche. Verständlicherweise wollten sie auf Ideen zurückgreifen, die im eigenen Lande oder zunächst in der eigenen Sprache aufgetaucht waren. Heute führt man allgemein die Existenz der Erklärung auf das amerikanische Vorbild zurück.

Wenn Jellinek dagegen eine gänzliche Gegensätzlichkeit der Erklärung zu dem System Rousseaus erwiesen zu haben glaubt, so ist er damit doch wohl zu weit gegangen. Eine Betrachtung der einzelnen Artikel soll zeigen, inwieweit im Inhalt der Erklärung Rousseaus Ideen weiterleben und wo Gegensätze vorhanden sind.

An erster Stelle zu erwähnen ist die Volkssouveränität, die auch in der Erklärung ihren Ausdruck fand und ihr revolutionäres Hauptelement darstellt. Sie war in allen Projekten der Erklärung enthalten, die doch sonst so ungeheure Verschiedenheiten aufwiesen. Der aus dem gesamten Volkskörper gebildete Souverän allein hat das Recht zu beschließen. Somit wird das Gesetz zum Ausdruck des Allgemeinwillens. Bei Rousseau allerdings sollte jedes Mal eine Volksabstimmung abgehalten werden, wenn ein Beschluß zustande kommen sollte. In der Erklärung dagegen sind auch die gewählten Vertreter des Volkes berechtigt, Gesetze zu schaffen. Rousseau kommt in seinem Kapitel über Volksvertreter zum Ergebnis: à l’instant qu’un peuble se donne des représentants, il n’est plus libre. Aber man kann wohl annehmen, daß er in der politischen Praxis sehr bald die Unmöglichkeit und Unzulänglichkeit dauernder Volksabstimmungen eingesehen hätte.

Wie bei Rousseau ist in der Erklärung auch die Verantwortlichkeit des Beamten geregelt. Bei beiden hat das Volk die Berechtigung, Rechenschaft von jedem Staatsbeamten über sein Verwaltungsgebiet zu verlangen.

Eine Übernahme Rousseauscher Gedanken liegt eindeutig vor in den Artikeln 4, 6 und 13, in denen die Gleichheit vor dem Gesetz stark betont wird. Ebenso ist die Zweiteilung der Gewalten in Legislative und Exekutive auf Rousseau zurückzuführen, während ja Montesquieu eine Dreiteilung vorgesehen hatte.

In der Frage des Strafmaßes traten die späteren Väter der Guillotine für Milde ein. Nur unbedingt notwendige Strafen sollten verhängt werden. Auch Rousseau hatte im »Contrat social« festgestellt, daß die Häufigkeit von Hinrichtungen in einem Staat immer ein Zeichen für die Schwäche oder Trägheit der Regierung sei. Aber das Vorhandensein einer Todesstrafe im System von Rousseau, die z.B. eintreten sollte, wenn jemand sich zur religion civile bekannt habe und sich später dennoch so betrüge, als glaube er nicht daran, dieses bloße Vorhandensein wurde ihm von St. Just, einem seiner feurigsten Anhänger unter den prominenten Männern der Revolutionsjahre, sehr übel genommen.

Einer der wichtigsten Artikel der Erklärung bestätigt das geheiligte und unverletzbare Eigentumsrecht. Niemand darf enteignet werden ohne gerechte und vorherige Entschädigung. Bei Rousseau stoßen wir hier auf einen Punkt, der an verschiedenen Stellen seiner Werke sehr widerspruchsvoll behandelt wird. In seinem »Discours sur l’origine de l’inégalité« hatte er das Privateigentum als Quelle allen Übels hingestellt. Da rief er aus:

Que de crimes, de meutres, que de misères et d’horreurs n’eût point épargnés au genre humain celui qui, arrachant les pieux ou comblant le fossé, eût crié à ses semblables: Gardez-vous d’écouter cet imposteur, vous êtes perdus si vous oubliez que les fruits sont à tous et que la terre n’est à personne. [Wieviele Verbrechen und Morde, wie viel Elend und Greuel hätte der Menschheit nicht derjenige erspart, der seinesgleichen zugerufen hätte: Hütet euch diesem Betrüger (nämlich dem, der zuerst ein Stück Land einfriedete) zuzuhören, ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte allen gehören und die Erde niemandem.]

Im Artikel »Économie politique« der Enzyklopädie, der von Rousseau verfaßt wurde, heißt es dagegen: Sicher ist das Besitzrecht das heiligste aller Bürgerrechte. Wie lassen sich diese so grundverschiedenen Sätze auf einen Nenner bringen?

Man kann an diesem Beispiel deutlich erkennen, wie aus dem Zusammenhang gerissene Sätze zu entgegengesetzten Anschauungen führen können. Am Schluß des »Discours sur l’inégalité« zieht Rousseau nämlich nicht die Folgerung, den Kommunismus einzuführen. Soll man, fragt er, die Gesellschaft zerstören, das Mein und Dein aufheben und in die Wälder zurückkehren, um mit den Bären zu leben? Das wäre eine Folgerung nach Art meiner Gegner. Wenn aber Rousseau das Eigentum anerkennt, so doch als ein völlig anderes als das der Rechte-Erklärung. Im Urzustand hat der Mensch ein unbegrenztes Recht auf alles, was er berührt und erreichen kann. Durch den Gesellschaftsvertrag verliert er dieses Recht, erhält aber gleichzeitig ein legitimes Besitzrecht durch den Staat. Der Eigentümer wird von Rousseau als dépositeur du bien public angesehen, als Hüter des Allgemeingutes. In der Erklärung der Menschenrechte dagegen beruft man sich auf das ursprüngliche Eigentumsrecht, ohne den Wandel durch den Gesellschaftsvertrag zu machen.

Zu betrachten sind noch weitere Differenzen. So weist der Freiheitsbegriff in beiden Systemen, sofern man die Erklärung überhaupt als System bezeichnen kann, wesentliche Unterschiede auf. Nach der Erklärung werden die Menschen frei geboren und bleiben es auch. Das Ziel jeder politischen Gemeinschaft muß die Bewahrung der natürlichen und unverjährbaren Rechte des Menschen sein, nämlich der Freiheit, der Sicherheit, des Eigentums und des Widerstandes gegen die Unterdrückung. Rousseau dagegen spricht von einer liberté civile, einer Freiheit im Staate. Ausdrücklich betont er, daß der Mensch durch den »Contrat social« seine liberté naturelle verliere und dafür die liberté civile gewinne. Die liberté naturelle ist begrenzt nur durch die Kräfte des Individuums, die liberté civile dagegen durch den Willen der Gesamtheit. Von unveränderter, naturgegebener Freiheit kann also nicht die Rede sein.

Einige wichtige Freiheitsrechte werden von Rousseau geradezu für staatswidrig erklärt. Vor allem handelt es sich um die Religionsfreiheit. Hierin war allerdings die Rechte-Erklärung auch nicht ganz fortschrittlich. Wohl hieß es im Artikel 10, daß niemand wegen seiner Meinungen, auch religiöser Art, behindert werden dürfe, aber mit der Einschränkung, daß ihre Veröffentlichung nicht die durch das Gesetz eingeführte Ordnung zu stören habe.
Die Vorkämpfer vollster Religionsfreiheit konnten trotz heftiger Debatten ihre Forderungen nicht durchsetzen. Nur innerhalb der gesetzlichen Schranken wird Freiheit der religiösen Meinungsäußerung zugestanden, also weder Kultusfreiheit noch Gleichberechtigung der nichtkatholischen Bekenntnisse. Am hergebrachten System der Staatskirche wird nicht im geringsten gerüttelt.

Rousseau ist jedoch vollkommen intolerant. Wer sich zur bürgerlichen Religion nicht bekennt, deren Artikel vom Souverän festgesetzt werden, kann verbannt werden. Wie schon erwähnt, sollte der mit dem Tode bestraft werden, der die bürgerliche Religion bekannt hat, sich aber so beträgt, als hätte er sich nicht zu ihr bekannt. Weiter heißt es:

Quiconque ose dire: Hors de l’Église point de salut, doit être chassé de l’État. [Wer auch immer wagt zu sagen: Außerhalb der Kirche kein Heil, soll aus dem Staat verjagt werden.]

Immer steht der Staat, die Gemeinschaft im Vordergrund, wie schon die Bezeichnung religion civile andeutet.

Stellen wir nach diesen Einzelerörterungen die Frage der substantiellen Abhängigkeit der Erklärung von Rousseau, so läßt sich feststellen, daß zwar einzelne wichtige Artikel von ihm übernommen sind, daß es sich aber auf keinen Fall um eine bloße Kodifizierung des »Contrat social« handelt.

Bewußt habe ich die Gegensätze beider »Systeme« in den Vordergrund gestellt, um dadurch die Eigenarten beider Richtungen hervortreten zu lassen. Die Männer von 1789 sahen Rousseau immer als Vertreter des Individualismus. Rousseau als Vertreter der Staatsomnipotenz war ihnen fremd, obgleich Äußerungen, die zu diesem Extrem neigen, nicht selten sind in seinen Werken. Bei der Erklärung der Menschenrechte kann man von liberaler Freiheit sprechen, bei Rousseau dagegen von demokratischer Freiheit. So jedenfalls definiert es Jellinek. Während die Rechte-Erklärung allzu sehr zum Individualismus tendiert, hat Rousseau erkannt, daß nur ein Mittelweg zwischen Individualismus und Staatsomnipotenz auf die Dauer das Leben einer politischen Gemeinschaft sichern kann.

 

→ Der präsentierte Feder-Text, der von Dr. Wolfgang Butzlaff (Kiel) stammt und zum 300. Geburtstag von Jean-Jacques Rousseau (*28. Juni 1712) hier erstmals veröffentlicht wird, ist zugleich eine Vorschau auf den Essay-Band des Verfassers, der unter dem (Arbeits-)Titel »Ungeschützte Expeditionen« für 2013 geplant ist.
Zum Stichwort ›Freiheit‹ ist – in mehr literarischer Stoßrichtung – von Wolfgang Butzlaff im Bernstein-Verlag bereits folgende Arbeit erschienen:
»Die Leitwerte ›Freiheit‹ und ›Sicherheit‹ in der Goethezeit. In: Bernstein-Regal, Nr. 1. Bonn 2008. 36 S. Rückenstichheftung. ISBN 978-3-939431-22-0, Euro 3,- [> bestellen]

Abbildung: Rousseau-Portrait von Maurice Quentin de La Tour (um 1753).

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Datum: Donnerstag, 28. Juni 2012 0:00
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Ein Kommentar

  1. 1

    Der erste „Mensch“, der eine willkürliche Grenze zwischen den Menschen gezogen hat („ich Jude — Du Muslim!“), hat ein noch schlimmeres Verbrechen begangen als jener Rousseausche „Mensch“, der zum Zwecke seines Landbesitzes einen Pflock in den Erdboden gerammt hat…
    Das erfolgreichste Mem („Ideologie“) aller Zeiten war wohl die „jüdische Kultur“, denn von ihr hängen alle modernen Kulturen ab: Christen, Muslime, Protestanten, Kapitalisten, Kommunisten, Marxisten, Nazis, Hollywood, etc. — und keiner merkt, dass er ein Sklave dieser 2000jährigen dummen jüdischen Tradition ist.
    Darum: Durchbrecht diesen jahrtausendealten Teufelskreis und seid nicht mehr die Sklaven dieser dummen „jüdischen Tradition“ („Juden“ > „Christen“ > „Marxisten“ > „Nazis“ etc.).

    „Ich habe schon genug mit meinem Menschsein zu tun. Warum muss ich denn auch noch Franzose und Calvinist (etc.) sein?“ (Michel de Montaigne). Wenn also jemand behauptet,
    er sei „Jude“ oder „Deutscher“ (etc.), so ist er letztlich „selber schuld“ − oder hat einfach den Montaigne (16.Jh.) nicht gelesen…

    Montaigne war vermutlich intelligenter als der ganze Bildungs-Pöbel von heute…

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