Leseprobe – Merkel: Autobiographische Schriften …
Im Juni 2010 erscheint, zum ersten Mal nach den Erstausgaben herausgegeben, ein Band mit den autobiographischen Texten von Garlieb Helwig Merkel (1769-1850): »Skizzen aus meinem Erinnerungsbuch« und »Darstellungen und Chrakteristiken aus meinem Leben«.
Als kleiner Appetithappen wird hier eine Passage wiedergegeben, die episodenhaft Merkels Aufeinandertreffen mit Goethe dokumentiert. Sie ist durchaus exemplarisch, was die ›heitere Bissigkeit‹ angeht, mit der Merkel sein Umfeld – persönlich, sachlich und auch örtlich – zu beschreiben wusste.
[…] Daß Loder in Jena ein Haus machte, hab’ ich schon gesagt. Er hatte eine schöne Wohnung, wenn ich nicht irre, einen Theil des Schlosses, die elegant möblirt war, und gab oft Mahlzeiten, bei denen es stattlich herging. So oft ein ausgezeichneter Gelehrter aus der Fremde nach Jena kam, machte Loder gleichsam die Honneurs der Stadt, und die anständigsten Studenten, vor Allen die Liefländer, hatten Zutritt bei ihm, so oft sie es wünschten. Gegen mich zeigte er viel freundschaftliche Güte. Als ich nach Weimar zog, bat er mich, so oft ich Jena besuchte, bei ihm abzusteigen, was ich indeß nur einmal that. Selbst in seinen letzten Lebensjahren hatte er mir von Moskau aus noch Beweise seines freundschaftlichsten Andenkens gegeben.
In seinem Hause war es auch, daß ich zum ersten und einzigen Male mit Göthe zusammentraf, aber leider auf eine Weise, die unsre persönliche Antipathie auf immer entschied. Noch in seinen Gesprächen mit Herrn Eckermann habe ich Spuren derselben gefunden. Wäre unsre erste Begegnung anderer Art gewesen, so glaube ich – doch man würde, was ich hier sagen wollte, für eitel erklären. Ich will lieber den Vorgang erzählen.
Ich las eines Abends gerade in dem Schillerschen Taschenbuche auf 1797 die Xenien und las sie mit steigendem Unwillen. – Schon durch meine Geistesnatur nicht zum blinden, enthusiastischen Bewunderer berufen, war ich es am wenigsten für die Deutsche schöne Literatur, die mir noch immer fremder geblieben, als die Englische und Französische. – Ihre Tagesgeschichte, aus welcher die Veranlassung jener Spottgedichte hervorgegangen, war mir völlig unbekannt. So sah ich in diesen Nichts, als die insolente Anmaßung der Verfasser, einer großen Anzahl ausgezeichneter Männer Beleidigungen zu sagen; daß diese witzig waren, machte die Sache noch schlimmer. Uebrigens herrschte die ohne Zweifel richtige Ansicht, daß, wenn Schiller auch Antheil an den Xenien habe, er doch nur von Göthe zu dem Muthwillen hingerissen seyn konnte. Indem ich über meinem Mißvergnügen brütete, erhielt ich ein Billet von Loder, mich ja so bald, als möglich, zur Abendgesellschaft bei ihm einzufinden; auch Göthe würde da seyn. Meine erste Regung war, zu antworten, ich würde eben deshalb nicht kommen; aber bald beschwichtigte mich die Betrachtung, daß durch mein Wegbleiben Niemand verlieren könnte, als ich selbst, und eine solche Erklärung meines Unwillens in meiner Lage lächerlich seyn würde. Ich kleidete mich an und ging hin.
Ich fand schon eine sehr zahlreiche Versammlung von fast allen Professoren und einigen Studenten beisammen. Im Prunkzimmer stand Göthe mit ernster, stolzer Miene vor dem Spiegeltische, auf beiden Seiten von Kerzen und vorne vom Kronleuchter beleuchtet, prunkend da, und um ihn eine Halbrunde von mehrern Reihen ehrfurchtsvoll Lauschender. Bei dem Gefühl, mit dem ich so eben die Xenien gelesen, widerte mich jenes Schauspiel an. Ich glaubte den Triumph strafloser Insolenz feiern zu sehen. Loder stellte mich Göthe’n vor, als den Verfasser der Letten. Er nickte herablassend, und fuhr fort in seiner Rede. Das verdroß mich, denn ich war mir bewußt, in Rücksicht meiner Zwecke über dem Verfasser der Xenien zu stehn. Daß er mein Buch wahrscheinlich gar nicht kannte, fiel mir nicht ein.
Er sprach gerade in einem docirenden Tone über Raphaels Gemälde im Vatican. Den letzten Umstand hatte ich nicht bemerkt und sagte: »Es wäre viel, wenn die Franzosen sich ihrer nicht bemächtigten.« Mit einer wegwerfenden Miene, als hätte ich eine Dummheit gesagt, erwiderte Göthe: »Sie sind ja auf die Mauer gemalt.« – Doch nur auf Stuck, antwortete ich, und zog mich aus dem bewundernden Halbkreise zurück, und habe mich Göthe’n nie wieder genähert. Mir hatte bei meiner Antwort dunkel vorgeschwebt, es müsse ein Mittel geben, die Stucklagen abzulösen, ohne Verletzung der Gemälde, die sie verherrlichen. Welcher Art dies Mittel seyn könne, ahnete ich freilich nicht; doch wenige Monate später erzählten die Zeitungen, daß die Franzosen Wandgemälde abgesägt hätten. Mit welchem Erfolge, weiß ich nicht mehr; gewiß aber hätten sie ihr Verfahren bis zum glücklichsten ausgebildet, wenn sich ihnen nicht bald die Aussicht eröffnet hätte, Rom selbst sammt seinen Herrlichkeiten zu behalten.
Ich brachte meine Verstimmung gegen Göthe mit, als ich einige Monate später nach Weimar zog, und sie wurde durch das, was ich von seinem Verfahren in literarischen und nicht literarischen Rücksichten hörte, nicht geändert. So verlebte ich einen großen Theil von drei Jahren dort, ohne einen Versuch, ihm näher zu kommen. Er schien schon damals meine Abneigung zu erwidern, wie aus manchen kleinen Kränkungen hervorging. Als z. B. Iffland nach Weimar kam, wurde Morgenstern, der bei mir wohnte, zu einem großen Dejeuner eingeladen, das Göthe Iffland gab, und an dem fast ganz Weimar Theil nahm; ich erhielt keine Einladung. Ich tröstete mich leicht durch den Gedanken, daß ich ohnehin nicht hingegangen wäre, aber ich sollte noch eine Art Satisfaction erhalten. Kaum war Morgenstern fortgegangen, als der rühmlich bekannte Schauspieler Graff zu mir eintrat, ein ernster Mann, von achtungswerthem Charakter. Wie! rief ich ihm entgegen; Ihre ganze Gesellschaft ist bei Göthe versammelt, und Sie sind nicht da? – Nein! antwortete er. Da der Herr Geheimerath sonst außer dem Theater keine Notiz von uns nimmt, so mag ich die Ehre, die man mir um Ifflands willen zu erzeigen geruht, auch nicht. – Sie sind ein braver Mann, und Ihr Selbstgefühl ist gerecht, sagte ich, indem ich ihm die Hand schüttelte.
In kleinen Städtchen wird Alles bekannt. Göthe erfuhr Graffs Besuch an jenem Morgen bei mir, vielleicht auch meine Aeußerung, und beschuldigte mich nachher einmal, ich mache ihm die Schauspieler aufsässig. Die Anschuldigung war durchaus unwahr. Ich war zwar zum Theater abonnirt, aber, außer Graff, mit keinem Gliede der Bühne bekannt, und auch diesen sah ich selten.
Da ich späterhin als Kritiker auftrat und mit freier Unbefangenheit auch über seine Schriften urtheilte, zürnte er heftig und sein Zorn wurde Erbitterung, als ich mich mit Kotzebue, den er verfolgte, zur Herausgabe des Freimüthigen verband. So lange ich in Deutschland war, that mir das keinen Schaden, wohl aber sehr großen, seit ich es 1806 verlassen hatte, besonders seit Bewunderung für ihn eine Art Aberglaube wurde. Alle Halbköpfe, über die ich einmal gelacht hatte, verbanden sich gegen mich, um meinen Namen beim Publikum verhaßt zu machen, und hatten immer dabei Göthe selbst oder das Berufen auf ihn zum Rückenhalt. Zwanzigmal hab’ ich den Vorwurf gehört: »Selbst Göthe hat er getadelt oder angegriffen.« Nun freilich ging meine Bewunderung des großen Dichters nie bis zu der Stupidität, ihn für unfehlbar zu halten, und was ich tadelhaft fand, darüber sprach ich sehr offen. […]
Bibliografisch:
Garlieb Helwig Merkel: Skizzen aus meinem Erinnerungsbuch. / Dartsellungen und Charakteristiken aus meinem Leben. Herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Uwe Hentschel; 310 Seiten, 17 x 24 cm, gebunden, fadengeheftet, Bernstein 2010, ISBN 978-3-939431-06-0, Euro 29,80.
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